Die naturwissenschaftliche Fakultät (NatFak) und das Hörsaalgebäude „Muschel“
Lothar Leonards (Universitätsbauamt, Leiter)
1964–1968 und 1967–1969
Das Institutsgebäude der naturwissenschaftlichen Fakultät mit dem vorgelagerten Hörsaalgebäude namens „Muschel“ bildet einen Höhepunkt der Campusentwicklung während der Nachkriegsmoderne.
Lothar Leonards, Architekt und damaliger Leiter des Universitätsbauamts, schuf mit dem Ensemble nicht nur eines seiner wichtigsten Werke, sondern auch ein Symbol für wissenschaftlichen Fortschritt und Technik.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Bauwerke seit 2018 unter Denkmalschutz stehen.
Die „NatFak“: amerikanische Moderne in Mainz
Das Gebäude der naturwissenschaftlichen Fakultät entwickelt an der Stelle des ehemaligen Sportplatzes einen sogenannten Riegelbau, der mit 106 Metern Breite, 33 Metern Höhe und 16 Metern Tiefe den prägnantesten Akzent in der Mainzer Campuslandschaft bildet. An einer der Hauptachsen gelegen, dem Johann-Joachim-Becher-Weg, ist das Bauwerk stark zurückgesetzt. Der entstandene Freiraum wurde in eine große Grünfläche umgestaltet, auf der zwei Skulpturen des Mainzer Künstlers Rheinhold Petermann platziert sind. Sie tragen den Namen „Große und kleine rote Schwingung“ und wurden 1975 angefertigt. Gemeinsam mit dem breit gepflasterten Weg hin zum überdachten Eingang des Institutsgebäudes entsteht ein repräsentativer Vorplatz, wie er für signifikante Hochhausgebäude bekannt ist. Ursprünglich war ein Wasserbecken am östlichen Ende des Baus vorgesehen.
Bauzeichnungen zeigen, dass noch 1956 ein Bau mit einem anderen Grundriss und ohne Hörsaalgebäude angedacht war. Der Riegelbau ist hier wesentlich kürzer gestaltet, dafür entwickeln sich die Seitentrakte orthogonal zum Hauptteil. Aus welchem Grund ab 1960 ein neuer Entwurf erstellt wurde, ist bislang unklar.
Dass die JGU eine schon damals höchst moderne Institution darstellte, die auf internationalem Niveau agierte, versinnbildlicht die Fassade: Sie ist ein architektonisches Statement und verweist auf einen der hochkarätigsten und historisch bedeutendsten Architekten der Moderne, Ludwig Mies van der Rohe. Der Bau besitzt eine markante Vertikalgliederung aus durchgehenden Stahlprofilen, die für eine feine Rasterung der äußeren Erscheinung sorgen.
Die für die Zeit typische Stahlkonstruktion wird durch eine harmonische Gliederung von Fenstern und blauen Glasflächen vollendet. So entsteht ein ebenmäßiger geometrischer Aufbau des Außenbaus, der durch die drei verglasten Treppenhäuser aufgelockert wird. Die Stahlkonstruktion setzt sich aus Doppel-T-Trägern zusammen, die als konstruktives Element beim Hochhausbau in der Moderne eingesetzt wurden. Normalerweise wurde das Gerüst im Inneren des Gebäudes verbaut und damit von außen unsichtbar.
Es war Mies van der Rohe, der die Stahlkonstruktion erstmals in den 1950er Jahren als schmückendes Fassadenelement von außen her einsetzte. Sein Apartmentkomplex namens „Lake Shore Drive“ in Chicago von 1951 und das berühmte Seagram-Building in New York von 1958 sind Vorreiter dieser Betonung der Stahlkonstruktion und zugleich Vorbild für das Institutsgebäude der naturwissenschaftlichen Fakultät in Mainz.
Moderne Elemente mit Rückblick auf die antike Bautradition
Wie andere berühmte Architekten der Moderne, zum Beispiel Le Corbusier, war Ludwig Mies van der Rohe fasziniert von der Harmonie antiker Bauwerke, deren Funktion und Ästhetik sich in einem perfekten Gleichgewicht befinden und wo kein Element zu viel oder zu wenig verbaut wurde. Die Doppel-T-Träger verstand Mies van der Rohe als Novum und zugleich moderne Referenz zu antiken Säulen. Diese waren nicht nur reich verziert, sondern dienten als wesentliches konstruktives Element für den Tempelbau. In den modernen Bauten zeugen die Stahlkonstruktionen, ähnlich wie antike Säulen, von der statischen Leistung, dem baulichen Fortschritt sowie einer schlichten Schönheit. Die Doppel-T-Träger werden somit zu einem Signum des neuen technischen Zeitalters, das nach dem Zweiten Weltkrieg und mit dem Bauboom der 1960er Jahre neue Dimensionen technischer Höchstleitungen erreichte. Aus diesem Grund griff Lothar Leonards für den Entwurf der naturwissenschaftlichen Fakultät auf Vorbilder aus den USA zurück, die die Mainzer Universität auf die Stufe internationaler Wissenschaften befördert und die Gründung der JGU, ihren Aufbau und Aufbruch in ein neues Zeitalter ehrt.
Technik und Gestaltung als Erkennungsmerkmal
Ludwig Mies van der Rohe war bekannt für seine freien Grundrisse, die fließende, flexibel nutzbare Innenräume ermöglichen. Dieser sogenannte „offene Grundriss“ findet sich ebenfalls im Foyer, das als Drehkreuz sowohl Zugang zu einem der insgesamt neun Geschosse über die drei großen Treppenhäuser oder den Aufzug bietet als auch zum südlich gelegenen Anbau führt, der 2011 erweitert wurde.
Der Fahrstuhl besitzt laut dem Architekten Rem Koolhaas die mechanische Eigenschaft, architektonische Verbindungen in neuem Ausmaß zu erzeugen. Er ist ein Symbol der Moderne bzw. Technisierung, der den Hochhausbau maßgeblich begünstigte. Die vertikale Gliederung in zwei Untergeschossen und sieben Obergeschossen kann dadurch schnell und unkompliziert erschlossen werden. Einer Hierarchie der einzelnen Fakultäten wird entgegengewirkt. Dass die Eingangshalle einen ebenso repräsentativen Charakter besitzt wie die Fassade, zeigt sich an den zu schweben scheinenden Treppenaufgängen sowie dem fein marmorierten Boden aus Naturstein, der sich vom sonstigen PVC-Boden abgrenzt.
Lothar Leonards als wichtiger Campusentwickler
Der Architekt Lothar Leonards war seit 1957 im Universitätsbauamt tätig und hatte von 1973 bis 1987 dessen Leitung inne. Er studierte Architektur an der Technischen Hochschule in Karlsruhe, wo er 1953 das Studium abschloss, und lernte bei dem international anerkannten Architekten Egon Eiermann. Leonards war 30 Jahre beim Mainzer Universitätsbauamt aktiv. Unter seiner Arbeit wurden zahlreiche Baumaßnahmen genehmigt und ausgeführt, darunter auch sein eigens entworfenes Philosophicum und das Hörsaalgebäude der naturwissenschaftlichen Fakultät, das „Muschel“ getauft wurde. Der Einfluss von Mies van der Rohe, aber auch Egon Eiermanns, belegt Leonards Gespür für internationale Architektur. Eiermann gilt als wichtiger deutscher Architekt im internationalen Diskurs, der während seiner USA-Reisen auch Walter Gropius und Mies van der Rohe kennenlernte. Darüber hinaus enthüllt Leonards Blick auf den Frankfurter Bockenheim-Campus auch sein Interesse für das Umfeld und die unmittelbare Campusentwicklung in Deutschland.
Mit dem Ensemble „NatFak“ und „Muschel“ erschuf er Inkunabeln, die jeweils eine andere Strömung moderner Architektur repräsentieren und zugleich die Bedeutung der Naturwissenschaften betonen. Als Symbiose von Geist und Technik gehen diese völlig unterschiedlich gestalteten Bauten ebenfalls eine Symbiose der Formen ein: Geometrie trifft auf organische Rundungen.
Der Zeitgeist des modernen Verwaltungshochhauses
Anders als bei Mies van der Rohes Hochhäusern ist das Institutsgebäude der naturwissenschaftlichen Fakultät als breiter Gebäuderiegel gestaltet. Trotz seiner Tiefe von 16 Metern wirkt der Bau aufgrund seiner 106 Meter langen Stirnseite verhältnismäßig schmal. Dadurch erinnert er an das Dreischeibenhaus in Düsseldorf (1960) oder das Hamburger Vattenvall-Gebäude (1969) von Arne Jacobsen.
Beide Vorbilder setzen sich aus mehreren schlanken und verglasten Hochhausscheiben zusammen. Der Bau von Jacobsen gilt als „eine der herausragenden architektonischen Leistungen im Verwaltungsbau“ (Sylvia Soggia: City-Nord – Europas Modellstadt der Moderne. S. 106) und steht als „bedeutendes Spätwerk“ (Arne Jacobsen in Spiegel online vom 23. Mai 2003. Abgerufen am 16. Oktober 2017) unter Denkmalschutz wie das Ensemble aus NatFak und Muschel.
Als in den 1960er Jahren die zweite Wiederaufbauphase und ein Bau- und Wirtschaftsboom eintraten, musste die damalige Architektur schnell auf die sich rasant vergrößernden Firmen und Unternehmen reagieren: Der Hochhaus-Verwaltungsbau und das Großraumbüro waren geboren. Perfekt geeignet für den zügigen Bau neuer Komplexe erschien der Funktionalismus, der sich um 1910 u. a. durch die Gründung des Bauhauses und den Bau moderner Fabrikgebäude wie das Fagus-Werk von Walter Gropius (1911) entwickelte. Die Ausrichtung hin auf die Funktion von Architektur und die moderne Schlichtheit wurden nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgegriffen und fortgeführt, so auch auf dem Gutenberg-Campus.
Das Gebäude der naturwissenschaftlichen Fakultät in Mainz wird von einem übergroßen, bronzefarbenen Rahmen eingefasst, in den die Geschosse förmlich eingehängt wurden. Ab dem Dachgeschoss, das den Dekanatssaal mit Terrasse beherbergt, bildet der Rahmen einen offenen Bügel und fungiert zugleich als Überdachung.
Er ist etwas vom Gebäuderiegel zurückgesetzt, wodurch ein Gesamteindruck von Leichtigkeit entsteht. Zeitgleich grenzen sich die Glasfassaden an den Schmalseiten deutlich ab und bilden offene Eckverglasungen aus. Die seitlichen Außenwände der NatFak bestehen aus Stahlbeton und sind mit Keramikplatten verkleidet, die heute durch Faserzementplatten verdeckt werden.
Wenige Jahre früher entstand in Frankfurt der Bockenheim-Campus als ebenfalls geschlossene Wissenschaftsstadt. Architekt Ferdinand Kramer wurde auf Bitten von Max Horckheimer zum Baudirektor der Johann Wolfgang Goethe-Universität ernannt und entwarf insgesamt 23 Universitätsbauten. Als Schüler von Ernst May, Bauhaus-Student und Exilant in den USA, der 1952 nach Deutschland zurückkehrte, führte Kramer die Idee der amerikanischen Universität in Frankfurt ein. Während sein AfE-Turm (1972 eingeweiht, 2013 gesprengt) an die Mainzer Bonifazius-Türme erinnerte, erinnert das 1958 bis 1960 gebaute Philosophicum von Frankfurt an die klare Fassade der NatFak.
Muschel
Hörsaalgebäude „Muschel“ (1967–1969): ein vielfach beachteter Entwurf
Innovative Schalenkonstruktion und organisches Material
Das Hörsaalgebäude wurde gemeinsam mit dem Institutsgebäude der naturwissenschaftlichen Fakultät und von Lothar Leonards entworfen. Umso erstaunlicher ist es, dass die Formensprache der sogenannten „Muschel“ eine völlig gegensätzliche ist . Ihr Name fiel vermutlich erstmals in einem Artikel der Mainzer Allgemeinen Zeitung vom 04. Oktober 1968, der die Unterschrift „Wie eine riesige Muschel“ trägt. Während die NatFak einen hochragenden, geometrischen Körper ausbildet, ist der Hörsaalkomplex ein flach vorgelagerter Bau mit einem dreieckigen Grundriss. Auf das gleichschenklige Dreieck ist eine schwungvoll gewölbte Betonschale als Dach gesetzt, die von Alfred Mehmel berechnet wurde. Ihre Spannbreite beträgt 55,7 Meter und das gesamte Dach ist freischwebend, also nicht mit den Wänden verbunden. Einzige Kontaktstellen sind die an den Ecken befindlichen Streben, die die Konstruktion mit dem Grund verknüpfen . Die Betonierung der Schale wurde im November 1967 durchgeführt, wobei 330 m3 Beton von den Dachrändern zur Schalenmitte angebracht wurden.
Die drei Eingänge an den Langseiten führen in eine dreieckig gegliederte Eingangshalle, in deren Boden ein polygonaler Wendeltreppenabgang in das Untergeschoss eingelassen ist. Die Wandflächen des Foyers sind ebenfalls mit Natursteinplatten verkleidet. Alle drei Wände weisen Reliefs auf, deren Künster:innen bislang leider nicht ermitteln werden konnten. Im Inneren befinden sich die Hörsäle in den Ecken des Baus und erstrecken sich räumlich vom Unter- bis ins Erdgeschoss.
International und national hochrangige Vorbilder
Trivia
Lothar Leonards‘ Frau bestätigte in einem Gespräch zum 60. Jubiläum der JGU, dass das Hörsaalgebäude Muschel eines seiner Lieblingsbauten gewesen war. 2021 berichtete sie eine Anekdote: Kurz nach Fertigstellung der Muschel sei ihr Mann an dieser vorbeigelaufen, während zwei kleine Kinder am Muschelrand auf das Dach stiegen. Ihr Mann habe diese freundlich darauf hingewiesen, dass dies doch gefährlich sei und bat sie, umzukehren. Ein Mädchen antwortete: „Wissen Sie, wie schön es ist, über einen Regenbogen zu laufen?“