Zentralbibliothek

Heinz Laubach und Günter Müller
1960-1964

Im Nordosten des Campus, zwischen dem Georg-Forster-Gebäude und den beiden Gebäuden für Recht und Wirtschaft, befindet sich die Zentralbibliothek der JGU. Eingebettet in die übrig gebliebenen Bäume des „Universitätswäldchens“ ist das Gebäude vom Jakob-Welder-Weg aus stark zurückgesetzt und durch einen längeren Zuweg erreichbar. Die Zentralbibliothek wurde von den Mainzer Architekten Heinz Laubach und Günter Müller entworfen und teilt sich in drei Baukörper unterschiedlicher Höhe und Gestaltung auf. Charakteristikum ist der zehngeschossige Bücherturm, der neben der NatFak einen Akzent sowohl des Universitätsgeländes als auch der Stadt Mainz bildet.

Eine erweiterbare Bibliothek für den wachsenden Buchbestand

Die Zentralbibliothek erhält durch die Dreiteilung der baulichen Komplexe eine aufgelockerte Erscheinung: Der Grundriss zeigt eine L-förmige Zusammensetzung der beiden südlichen Teile mit längs angefügtem, schmalen Bücherturm, der parallel zur Saarstraße verläuft. Den Dreh- und Angelpunkt bildet der über vier Stufen erreichbare Eingang im Süden, der in einen vorgesetzten Flur und dann in die großzügige Eingangshalle führt. Sie verbindet alle Elemente der Bibliothek – Katalog- und Lesesaal sowie Ausleihe – mit den Personalräumen.

Die Idee war es, Nutzungs- Verwaltungs- und Magazinräume voneinander zu trennen. Während der Verwaltungsbereich im westlichen, dreigeschossigen Trakt untergebracht ist, ragt der nördliche Bücherturm über den flachen Komplex hinaus. Im Osten schließt sich ein Trakt an, in dessen Zentrum ein betretbarer Innenhof mit eingelassenen Reliefs liegt. Am Ende des Traktes befinden sich die Lesesäle.

Das Gebäude wurde in enger Zusammenarbeit der Universitätsbauleitung mit dem damaligen Bibliotheksdirektor Dr. Hermann Fuchs und den seinerzeit angestellten Bibliothekar:innen entwickelt. Herrn Dr. Fuchs‘ Pensionierung wurde sogar verschoben, damit dieser die Bauleitung übernehmen konnte. Für ihn war der Neubau ein Herzensprojekt. Die bemerkenswerte Zusammenarbeit mehrerer Einrichtungen führte zu einem funktionalen, logisch strukturierten Bau, bei dem die Möglichkeit der Erweiterung im Bereich des Bücherturms besteht: Dieser könnte dank statischer Kalkulationen und seiner Konstruktion von zehn auf sechszehn Stockwerke erhöht werden.

Geschichte des universitären Buchbestands

Zur Gründungszeit der JGU, im Jahr 1946, lagerten die von der französischen Militärregierung beschafften Bücher in einem Keller. Ein Buchbestand war nicht vorhanden. 7000 Bände der alten Universität gingen 1803 an die Stadtbibliothek. Mit der Gründung der JGU wurde eine provisorische Ausleihe eingerichtet. In den folgenden Jahren fanden säckeweise Ankäufe von Büchern aus Straßen-Antiquariaten in Berlin statt. Bis 1960 erweiterte sich der Buchbestand, der in mehreren Räumen im Forum untergebracht war: Das Magazin lag im Keller, Kataloge wurden in einem Flur im Erdgeschoss eingelagert und Schlagwortregister befanden sich in den Dienstzimmern mancher Referent:innen. Ebenso wurde ein nur behelfsmäßiger Lesesaal mittels Durchbruch mehrerer kleiner Räume erzeugt. Insgesamt 380 000 Bände kamen in den folgenden Jahren zusammen, mit ca. 3000 jährlichen Neukäufen. 

Erste Gespräche über einen Bibliotheks-Neubau kamen bereits 1956 auf, woraufhin die Architekten Laubach und Müller sofort erste Entwürfe anfertigten. Diese entsprachen dem damaligen Stand von Neubauten in Deutschland. So wurden im Voraus Reisen zur Universität des Saarlandes unternommen, um einen ausreichenden Raumbedarf zu kalkulieren. Auch wurde der Kollege Prof. Dr. Tiemann aus Hamburg in die Mainzer Pläne miteinbezogen, der von dem Entwurf begeistert war. 1958 wurden finanzielle Mittel beantragt und am 15. August 1960 „ohne Feierlichkeiten“, so Direktor Fuchs, der Spatenstich getätigt. Allerdings waren an diesem Tag zum ersten Mal Mainzer Abgeordnete bei einem universitären Richtfest vor Ort, was eine Besonderheit darstellt. Und die Zeitschrift „Das Neue Mainz“ lobte bereits vor Fertigstellung die Bedeutung dieses Gebäudes:

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„Demnächst wird der erste Spatenstich zu einem eigenen Bibliotheksbau getan werden, der auch nach außen den Rang der Mainzer Universitätsbibliothek – sie ist die größte Bibliothek des Landes Rheinland-Pfalz – dokumentieren wird.“

Eine Frage des Standortes

Die Zentralbibliothek ist das am meisten genutzte und frequentierte Gebäude des Campus. An keinem Ort des Campus, außer der Mensa, kommen so viele Student:innen und Wissenschaftler:innen aus den verschiedensten Instituten und Einrichtungen zusammen. Der Standort einer Universitätsbibliothek muss daher gut überlegt, zentral und für alle erreichbar sein. 1960 war der Bauplatz an der nördlichen Saarstraße eine gute Option, da so die Wege von allen Bereichen des damals noch wesentlich kleineren Campus zur Bibliothek kurz ausfielen. Doch ursprünglich war geplant, das Gebäude an einer anderen Stelle zu errichten: Zu Beginn der Bauplanungen war ein Gebiet im Süden des Campus angedacht. Dieser Plan wurde aber verworfen, als die naturwissenschaftliche Fakultät den Anspruch auf das Gelände erhob. Ursprünglich gab es auch Kritik am jetzigen Standort durch die Meteorologie: Der hohe Bücherturm versperre den Blick in den Taunus zu stark, wodurch die Wetterforschung beeinträchtigt werde. Nichtsdestotrotz blieb es bei dem Ort am Universitätswäldchen. Sogar das Kultusministerium stellte sich gegen den Neubau.

Kurzzeitig drohte die Standortversetzung in ein Gebäude am Binger Schlag, wo Kunstgeschichte und Musik beherbergt waren. Ein unbedachter Vorschlag, der unnötig lange Wege zu einem der meistgenutzten Gebäude der Universität verlangt hätte.

Ein veraltetes Büchereiprinzip?

Die Dreiteilung von Hochschulbauwerken ist ein klassisches Merkmal der 1960er und lässt sich auch anhand des 1961 gebauten ReWi von Hans Strack nachvollziehen.

Im Gegensatz zu heute konnten die Nutzer:innen der Mainzer Zentralbibliothek nur den Lesesaal, nicht aber den Bücherturm betreten. Die repräsentative Eingangshalle, die das Zentrum der Bibliothek darstellt, wird in ihrer Wichtigkeit durch das gezackte Sheddach von außen betont. Zugleich sorgen die Sheds für einen gedämpften, aber ausreichenden Lichteinfall in den Innenraum.

Ursprünglich befanden sich Zettelkataloge in der Halle, in der heute der große PC-Pool ist. Bei der dort stattfindenden Literaturrecherche wurden die Karteikarten bei der Ausleihe eingereicht und die benötigten Bände von Mitarbeiter:innen bereitgestellt. Die Ausleihe befand sich früher an der nördlichen Wand, heute liegt sie westlich. Die östliche Wand ist nach wie vor mit einer typischen 60er-Jahre Holzvertäfelung versehen.

Die Infrastruktur der Zentralbibliothek war bereits 1960 nicht mehr auf dem neuesten Stand. Ferdinand Kramer hat in Frankfurt am Main eine Universitätsbibliothek nach dem amerikanischen Prinzip entworfen, in der das Magazin zu einem „Freihandmagazin“ und damit für alle zugänglich gemacht wurde. Kramers Bücherei wurde seinerzeit als „Europas modernste Bibliothek“ gelobt. Das Magazin wurde in Frankfurt mit dem Lesesaal verschmolzen, um möglichst kurze Wege zwischen Buch und Benutzer:in zu schaffen. Dagegen war die Ausleihe in Mainz mit dem Zugang zum Magazin verbunden und nur dem Personal zugänglich.

 

Heute sind vier der zehn Stockwerke des Mainzer Bücherturms zur selbstständigen Ausleihe geöffnet, andere Stockwerke beherbergen den Magazinbestand, der bis heute über das Online-System bestellt werden muss. Allerdings war es eine Neuerung, dass der Mainzer Lesesaal mit Büchern ausgestattet ist. Das Prinzip wurde der US-amerikanischen Architektur entlehnt. Die Mainzer Universität war jedoch nicht allein mit ihrer Idee, an dem Konzept des separaten, nicht für Nutzer:innen zugänglichen Bücherturms festzuhalten. Die denkmalgeschützte Universitätsbibliothek in Gießen (1959) besteht aus einem sichelförmigen Hauptbau und einem dunkel gehaltenen Bücherturm. Auch die Universitäts- und Stadtbibliothek in Köln, die von 1964 bis 1968 von Rolf Gutbrod gebaut wurde, weist einen Magazinturm und eine Dreiteilung mit Verwaltungs- und Lesesaaltrakt auf. Ebenso besitzen die Kölner und Mainzer Fassaden des jeweiligen Magazins Ähnlichkeiten. Ihre perforierte Fassadengestaltung war typisch für die Zeit.

Funktionale Ästhetik für den Magazinturm und die Betonwabe

Der Magazinturm in Mainz ist, wie der gesamte Komplex der Zentralbibliothek, als Stahlbetonkonstruktion ausgeführt. An seinen Längsseiten besitzt er eine interessante Fassadenstruktur, bestehend aus quadratischen Betonwabensteinen, die vor die Verglasung gelegt wurden. Dieser ornamentale Kniff dient nicht nur zur Auflockerung des breiten Baukörpers, sondern schützt auch den Buchbestand vor zu hohen Lichteinflüssen. Außerdem wurde in jedem Geschoss ein kleiner Balkon angebracht, der betreten werden konnte.

Die Einführung des Wabenmotivs galt in der Nachkriegsmoderne als bahnbrechend. Die Wabe entwickelte sich zu einem übergreifenden, immer wieder auftauchenden und variablen Motiv der 1960er und 1970er Jahre. Zu Beginn wurde vermehrt mit einer dreieckigen Grundform experimentiert, später dominierten die sechseckigen Formen, die in einer regelmäßigen Aneinanderreihung mehr Gestaltungsfreiraum ermöglichten.

Wabenstrukturen wurden sowohl für die Boden-, Decken- und Fassadengestaltung als auch als Vorlage für ganze Gebäudeformen verwendet. Die Mainzer Zentralbibliothek besitzt zwar keine drei- oder sechseckigen Waben. Das Centrum Warenhaus in Dresden (1973 bis 1978, entworfen von Ferenc Simon und Ivan Fokvari) ist ein Paradebeispiel für eine umfassende Wabenfassade.

Allerdings bilden die rechteckigen Betonabschnitte am Mainzer Bücherturm mit jeweils 6 x 5 quadratischen Perforierungen weniger ein klassisches Raster als vielmehr ein haptisches Wabenmuster. Dieses lässt sich eindeutig auf die Wabenfassade der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche von Egon Eiermann aus dem Jahr 1957 zurückführen. Sie gilt als ein Schlüsselwerk der Nachkriegsmoderne. Als national und international berühmter Architekt wurden Eiermann und speziell dessen Berliner Kapelle vielfach rezipiert (u. a. von Lothar Leonards, Architekt von NatFak, Muschel und Philosophicum).

Der Lesesaal: durchdachtes Design

Von der Eingangshalle mit Ausleihe aus gelangt man im Westen zum großen Lesesaal, der durch eine lange, gläserne Wandelhalle erreichbar ist. Heutzutage ist der Lesesaal in zwei offene Ebenen unterteilt: Im unteren Bereich sind Bücherregale aufgestellt, während sich auf der breiten, später eingezogenen Zwischenebene Arbeitsplätze befinden. Historische Fotografien zeigen, dass der Lesesaal früher eine ganz andere Raumwirkung hatte: Die Arbeitsplätze waren ebenerdig und dort, wo heute Bücherregale dunkle Korridore bilden.

 

Eine hohe Galerieebene mit weiteren Lesetischen und Bücherregalen befindet sich bis heute an der Westwand des Lesesaals. Diese wird von hohen, filigranen Betonstützen getragen und besitzt Holzbrüstungen mit abstrahiertem Muster. Die klare, auf das Material fokussierte Formensprache des Lesesaals wurde durch das moderne, elegante Mobiliar gestützt, das im Laufe der Zeit jedoch ausgetauscht wurde.

So entstand ein hochwertiger, offener und freundlicher Eindruck und optimale Lernbedingungen. Man hatte einen freien Blick auf die zwei vollverglasten Wände, durch die das Universitätswäldchen und der begehbaren Binnenhof sichtbar sind. Der Hof als Ruheort ist vor der Außenwelt weitestgehend geschützt. Er besticht durch ein markantes Betonrelief an der Nordwand mit dem Titel „Diskussion“. Geschaffen wurde es von der Mainzer Bildhauerin Inge Blum (1924-2011).

Große Eröffnungsfeier und Resonanz der Medien

Trotz dieser nicht ganz zeitgemäßen Umsetzung eines dennoch gut funktionierenden Baus wurde die Zentralbibliothek am 01. Juni 1964 feierlich eröffnet. Die Feier war ein großer Auftakt, an dem auch mehrere Hundert Studierende teilnahmen und sich die zahlreichen Festreden anhörten.

Die Mainzer Stadtnachrichten sprachen von einem „moderne[n] ‚Babel‘ der Wissenschaft“ und einem „neuen städtebaulichen Akzent“ der Mainzer Peripherie. Die Allgemeine Zeitung berichtete von einem „schönen Turm“ der gebaut wurde, „um den erhöhten Anforderungen wissenschaftlicher Ausbildung gerecht zu werden.“

Heinz Laubach: Ein Architekt für Mainz

Heinz Laubach ist einer der wichtigsten Mainzer Architekt:innen der Nachkriegsmoderne. Er prägte die Stadt über mehrere Jahrzehnte in städtebaulicher, architektonischer und politischer Hinsicht. Die Zentralbibliothek der JGU ist nur eines seiner vielzähligen Bauprojekte in Mainz. Für die Innenstadt entwarf er das offene Einkaufsviertel „Am Brand“ (1971-1974) als dynamische Infrastruktur, die die gewundenen Straßen der teils zerstörten Nordaltstadt aufgreift.

Gegenüber, nah am Rheinufer, entstand mit der Rheingoldhalle (1965-1968) ein bis heute wichtiges Veranstaltungszentrum. Sie besitzt wie die Zentralbibliothek ein Sheddach.

 

In der Peripherie, am Lerchenberg, erschuf Laubach ein konträres Gebäudekonzept mit dem vierzehngeschossigen ZDF-Hochhaus (1970-1974), das durch Fensterbänder besticht. Jedes der Gebäude besitzt eine eigene Formensprache und Raumlösung und alle Entwürfe gehen behutsam auf die Geschichte und den Kontext des Stadtraums ein. Mit der Zentralbibliothek entstand eines der jüngsten Bauwerke Laubachs in Mainz, das nicht weniger als seine Nachfolger durch Funktionalität und effektive Raumnutzung glänzt.

 

Zukunft und die geplante Neue Mitte

Wie die Geschichte des Mainzer Gutenberg-Campus gezeigt hat, wird der Raum aufgrund stetig steigender Studierendenzahlen ab einem gewissen Punkt knapp. Dann muss schnell mit einem Raum- und Gebäudekonzept für Entlastung gesorgt werden. Im Laufe der Geschichte der Zentralbibliothek kam es immer wieder zu Kapazitätsknappheiten. Bereits 1972 war das Magazin voll, eine Aufstockung des Turms auf sechszehn Geschosse kam nicht zustande. Stattdessen fanden in mehreren Phasen Umstrukturierungen des Bestands statt. Die medizinhistorischen Bestände wurden auf den Medizincampus ausgelagert. In den 1990ern folgten nach und nach Dezentrierungsmaßnahmen: die Bereichsbibliotheken entstanden unter Aufsicht von Dr. Andreas Anderhub. Auch heute ist die Zentralbibliothek wieder zu klein. Auf Empfehlungen des Wissenschaftsrats hin wurden Überlegungen über einen Neubau angestoßen, der weiterhin möglichst zentral und für alle Institute erreichbar sein soll. Ein anzustrebender Platz ist die Campusmitte zwischen Jacob-Welder-Weg und Johann-Joachim-Becher-Weg, auf der derzeit noch die Alte Chemie steht. Der gesamte Streifen soll in Zukunft durch Neubauten mit großzügigen Freiräumen und Plätzen begeistern. Ausgestattet werden soll der Neubau der Zentralbibliothek mit einem großen Freihandbereich, Räumen für Gruppenarbeiten und Leseplätzen. Modernste Technik soll auf die Entwicklungen des angebrochenen digitalen Zeitalters angemessen reagieren.

 

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Trivia

Das zurückgesetzte Erdgeschoss des westlichen Verwaltungstrakts war ursprünglich freigestellt, sodass man unter dem Gebäudeteil hindurchlaufen konnte (hist. Abb.). Dieser 12 Meter breite Durchgang führte von dem damaligen Mainzer Kolleg (heute befindet sich an dieser Stelle das Georg-Forster-Gebäude) bis zum Universitätswäldchen. In den Archivdokumenten wird der sogenannte Portikus mit Säulenhalle ausdrücklich gelobt. Der Sinn dahinter war, die Baumasse zum Schweben zu bringen und die Fassade aufzulockern, um so einen „reizvollen – fast malerischen“ Durchblick „zu schaffen.“